Ein kleines Märchen

(der Autor ist mir leider nicht bekannt)

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlang kam. Sie war zwar schon recht alt, doch ihr Gang war dennoch leicht, und ihr Lächeln hatte den Glanz wie das eines jungen Mädchens. Irgendwann traf sie auf ihrer Wanderung auf eine am Wegrand zusammengekauerte Gestalt - ein fast körperloses, konturloses graues Etwas, das sich kaum vom Staub der Straße abhob. Die kleine Frau blieb stehen, bückte sich zu der Gestalt herunter und fragte voll Mitgefühl: "Sag, wer bist Du?" Zwei leblose Augen blickten müde auf, und das Wesen flüsterte mit rauher, leiser Stimme: "Ich? Ich bin die Traurigkeit."

"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, gerade so, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen. "Du kennst mich?" schreckte die Traurigkeit mißtrauisch auf. "Natürlich kenne ich dich!" entgegnete die kleine Frau. "Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet." "Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst vor mir, so wie alle anderen?" "Nein! Warum sollte ich vor Dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, daß du jeden, der das wagt, doch unweigerlich wieder einholst. Aber was ich dich fragen möchte: Warum siehst du so mutlos aus?" "Ich...ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.

Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnissvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt".

Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr tatsächlich wirklich einmal jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht! "Ach weißt du", begann sie zögernd, "es ist so, daß mich einfach niemand mag. Es ist nun einmal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie vor mir zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest". Die Traurigkeit schluckte schwer. "Sie haben sogar Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen zum Beispiel: Ach was, das Leben ist heiter! Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht! Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen!. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie meine Anwesenheit nicht mehr so stark fühlen müssen."

"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet."

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, gerade so wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut natürlich ungeheuer weh. Aber nur wer die Trauer zuläßt und all seine bis dato ungeweinten Tränen endlich weint, nur der kann seine Wunden heilen. Doch die Menschen wollen scheinbar gar nicht, daß ich ihnen helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu".

Die Traurigkeit schwieg. Sie weinte. Zunächst leise und schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt.

Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit Du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt, als sie schon hat." Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin. "Aber...aber wer bist Du eigentlich?" "Ich?" sagt die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein junges Mädchen.

"Ich bin die HOFFNUNG!"


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